Disaster MS Estonia
Die Estonia war eine RoPax-Ostseefähre, die am 28. September 1994 auf ihrem Weg von Tallinn nach Stockholm vor der finnischen Insel Utö sank.
Der Untergang der Estonia ist mit 852 Opfern das schwerste Schiffsunglück der europäischen Nachkriegsgeschichte.
Konstruktion
PlanungUrsprünglich war das Schiff von einer norwegischen und von Parley Augustsen geführten Firma für den Schiffsverkehr zwischen Norwegen und Deutschland vorgesehen, diese Reederei zog jedoch den Auftrag zurück. Der Vertrag wurde daraufhin mit der Reederei Ab Sally, einem Partner des Reederei-Konsortiums der Viking Line, geschlossen. Die demselben Konsortium angehörende SF Line war ebenfalls an dem Schiff interessiert. Ursprünglich war das Schiff als Schwesterschiff der im Jahr 1979 von derselben Werft gebauten Diana II für die Rederi AB Slite, den dritten Partner der Viking Line, konzipiert. Als jedoch Rederi Ab Sally den Fertigungsauftrag übernahm, wurden die ursprüngliche Schiffslänge von 137 auf 155 Meter verlängert und die Aufbauten im Design geändert.
BauGebaut wurde das Schiff schließlich 1980 von der Werft Jos. L. Meyer in Papenburg, welche schon während der 1970er Jahre eine große Anzahl von Schiffen für die Viking Line gebaut hatte. Beachtenswert war bei dem Design die Bugkonstruktion, welche aus einem nach oben öffnenden Bugvisier und einer von ihm umschlossenen Bugrampe bestand. Eine gleiche Bugkonstruktion wurde bei der 1979 fertiggestellten Diana II verwendet, deren Bugvisier bei einem Sturm am 16. Januar 1993 Schäden erlitt, weshalb es bei Umbauarbeiten, in deren Zeit der Untergang der Estonia fiel, verschweißt wurde.
Einsatz
Für die finnische Reederei Viking Line als Viking Sally unterwegs und nach weiteren Einsätzen bei den Reedereien Silja Line als Silja Star und Wasa Line als Wasa King wurde die Fähre zuletzt im Oktober 1992 an ein schwedisch-estnisches Joint Venture der Nordström & Thulin AB und der Estonian Shipping Co. verkauft und erhielt den Namen Estonia – die englische und lateinische Bezeichnung Estlands. Sie war zu dieser Zeit das größte und modernste Reiseschiff unter estnischer Flagge und bediente fortan die Route Stockholm–Tallinn im Liniendienst.
Der Untergang
Die Estonia legte am 27. September 1994 mit Verspätung gegen 19:17 Uhr (planmäßige Abfahrt 19 Uhr) im Reisehafen der estnischen Hauptstadt Tallinn unter dem Kommando der beiden Kapitäne Arvo Andresson und Avo Piht ab und nahm Kurs auf Stockholm. Die Ankunft in Stockholm war für den nächsten Morgen um 9 Uhr geplant. Die Abfolge der Geschehnisse in jener Nacht konnte aufgrund der Aussagen von Überlebenden des Untergangs und des Funkverkehrs nach dem Mayday-Notruf der Estonia einigermaßen rekonstruiert werden.
In schwerer See drang zu heute nicht mehr nachvollziehbarer Zeit nach Mitternacht Wasser in die Estonia ein. Wie dieser Wassereinbruch zustande kam, ist nicht zweifelsfrei geklärt. Es gibt hierzu verschiedene Theorien, vom Eindringen des Wassers durch die Bugklappe bis hin zur Vermutung eines ersten Lecks unterhalb der Wasserlinie im Rumpf des Schiffes.
Untersuchungen ergaben später, dass die Scharniere der Bugklappe bei der rauen See starken Belastungen ausgesetzt waren und während der Fahrt brachen. Der wenig erfahrene Kapitän verringerte trotz der Probleme mit der Bugklappe nicht die Fahrt. Bei dem hohen Wellengang brach das Bugvisier um etwa 01:15 Uhr weg und große Wassermengen konnten ungehindert in das Schiff eindringen.
Daraufhin bekam die Fähre starke Schlagseite und sank innerhalb kurzer Zeit. Die Besatzung wurde durch eine Warndurchsage informiert, die offenbar lediglich in estnischer Sprache über die Lautsprecher ging, so dass der größte Teil der meist schwedischen Passagiere sie nicht verstehen konnte. Nur wenige Minuten nach dem ersten Notruf „Mayday“ um 01:22 Uhr, der von anderen in der Nähe befindlichen schwedischen und finnischen Schiffen aufgefangen und beantwortet wurde, riss der Funkkontakt um 01:29 Uhr ab. Bereits kurze Zeit später verschwand die Estonia von den Radarschirmen der umliegenden Schiffe und der Militäranlagen an Land und auf Inseln.
Da sich der Unglücksort in einem relativ stark befahrenen Seegebiet befindet, war bereits etwa eine Stunde nach Abbruch des Funkkontakts die Mariella, eine Fähre der Viking Line, am Unglücksort. Starker Wellengang bis zu 10 m Höhe behinderte die Rettungsmaßnahmen. Lediglich 137 Menschen überlebten das Unglück. Die meisten Passagiere konnten das sinkende Schiff nicht verlassen, da ihnen keine Zeit mehr zur Flucht ins Freie blieb. Ein Teil der Passagiere, denen dennoch die Flucht von Bord der Estonia gelang, starb im etwa 13 °C kalten Wasser der Ostsee oder auf den Rettungsinseln an Unterkühlung. Mindestens 852 Menschen kamen bei der bisher größten Schiffskatastrophe in Friedenszeiten auf der Ostsee ums Leben; nur 94 von ihnen wurden geborgen.
Die ertrunkenen Fahrgäste kamen aus Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, dem Vereinigten Königreich, Kanada, Lettland, Litauen, Marokko, den Niederlanden, Nigeria, Norwegen, Russland, Schweden, der Ukraine und Weißrussland.
Junge Menschen und insbesondere junge Männer überlebten das Unglück zu einem größeren Anteil als die übrigen Passagiere. Während 485 der 989 Personen an Bord Frauen waren (49 %), waren unter den 137 Überlebenden nur 26 Frauen (19 %). Während sich von den 60 jungen Männern im Alter von 20 bis 24 an Bord 26 (43 %) retten konnten, gelang dies nur 4 von insgesamt 40 (10 %) Frauen gleichen Alters. Von den 15 Kindern (Alter unter 15 Jahre) überlebte nur ein Junge. Besonders hoch waren die Verluste unter den 301 Personen im Alter von mindestens 55 Jahren. Von ihnen konnten sich nur 7 retten, darunter 5 im Alter unter 65 und keiner über 75 Jahre.
Zahlreiche der Überlebenden leiden noch heute unter den psychischen Folgen. Eine 2011 publizierte Studie, die Überlebende 14 Jahre nach dem Unglück befragte, ergab, dass 27 % der Überlebenden über signifikante Symptome psychischer Probleme berichteten.
Untersuchungen zur UnglücksursacheUnmittelbar nach dem Untergang bildeten die direkt betroffenen Staaten Schweden, Estland und Finnland eine Untersuchungskommission, welche die Ursachen für den Untergang ergründen sollte. Die Ermittlungen zogen sich bis ins Jahr 1997; das Ergebnis wurde in einem Untersuchungsbericht veröffentlicht. Neben dieser offiziellen Untersuchung des Unglücks wurden weitere unabhängige Untersuchungen vorgenommen, unter anderem von Seiten der Meyer Werft, die sich damit gegen die im offiziellen Bericht erhobenen Vorwürfe von Konstruktionsmängeln wehren wollte.
Nicht nur die Meyer Werft kritisierte, dass wichtige Beweismittel unter Verschluss gehalten wurden, so auch Teile der Aufnahmen, die durch ein ROV (Remotely Operated Vehicle), einen Unterwasserroboter, von den verstreuten Wrackteilen am Meeresboden gemacht worden waren. Anfangs wollte die schwedische Regierung die gesamte Fundstelle des Wracks mit allen Wrackteilen in einen Beton-Sarkophag einschließen lassen, was jegliche weitere Untersuchung weitgehend unmöglich gemacht hätte. Das Wrack, so der Plan, sollte für alle Ewigkeit unter einer massiven Betondecke verschwinden. Offizielle Begründung: Niemand dürfe die Totenruhe stören. Allerdings können laut dem finnischen Estonia-Ermittler Kari Lehtola normale Taucher, ebenso wie die finnische Marine, in dieser Tiefe von über 60 Metern gar nicht arbeiten. 65 Millionen D-Mark (rund 33 Millionen €) hätten die Kosten dieser eilig angeordneten Aktion betragen. Doch noch bevor der Plan in Stockholm abgesegnet worden war, transportierten Schiffe Tonnen von Geröll und Schutt herbei und schütteten sie über die Estonia. Erst massive Proteste von schwedischen Bürgern und Angehörigen stoppten das Unternehmen. Daraufhin wurde ein Bannmeilenabkommen geschlossen, das ein Sperrgebiet um das Wrack der Estonia legt. Beigetreten sind acht von neun Ostseeanrainerstaaten und Großbritannien. Lediglich Deutschland trat nicht bei, mit dem Hinweis, dass Sonderregelungen für spätere Ermittlungen zur Ursache fehlen.
Ende 2004 gab ein schwedischer Zollbeamter gegenüber den Massenmedien zu Protokoll, dass vor dem Untergang Militärelektronik und Waffenteile aus dem russischen Raum auf die Estonia gebracht worden seien und diese Transporte nicht kontrolliert werden durften. Diese übliche Praxis sei wiederholt vorgekommen und von höheren Stellen angeordnet gewesen. Weiterhin wurden Unstimmigkeiten der Ladelisten bei der Unglücksfahrt festgestellt. Infolge dieser Anhaltspunkte wurden die Untersuchungen Ende 2004 offiziell wiederaufgenommen. Unter anderem räumte das schwedische Militär ein, dass militärische Transporte mit zivilen Fähren befördert worden seien. Der Ausgang der Untersuchungen ist noch offen.
Im März 2005 gab die schwedische Regierung bekannt, dass eine erneute Untersuchung mittels Computersimulation international ausgeschrieben wurde. Die TU Hamburg-Harburg führte danach die Computersimulationen zum Unglückshergang durch. Ferner existierte die Theorie, dass die Bugklappe mutwillig gesprengt worden sei: Zwar ließ sich durch Materialprobenprüfung in der Kristallstruktur ein auffälliges Muster erkennen, welches durch kurze und starke Belastung, wie etwa durch einen Schlag oder durch eine Sprengung, entsteht. Weitere Untersuchungen stellten jedoch fest, dass diese Muster in der Kristallstruktur schon während der Herstellung der Fähre entstanden sind. Verursacht wurden sie durch Kugelstrahlen, einen Arbeitsschritt vor dem Auftragen einer Rostschutzlackschicht.
Der am 10. März 2006 veröffentlichte Untersuchungsbericht des estnischen Generalstaatsanwaltes bestätigte Zweifel am Abschlussbericht der offiziellen Untersuchungskommission aus dem Jahr 1997 und gab Anlass zur Spekulation, dass eine neue unabhängige Untersuchung des Unglücks angeordnet würde.
Im Jahr 2006 leitete Schwedens Justizkanzler Göran Lambertz eine neuerliche Untersuchung über mögliche Vertuschungsversuche durch die schwedische Regierung ein. Lambertz begründete seinen Schritt mit neuen Berichten, wonach das Wrack kurz nach der Schiffskatastrophe mit Wissen der Regierung in einer Geheimaktion von Tauchern untersucht worden sei. Über diese geheime Tauchaktion hatte der schwedische Militärtaucher Håkan Bergmark bereits Ende 1999 in einem TV-Interview mit der Journalistin Jutta Rabe berichtet. Das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ hatte damals eine Veröffentlichung dieses Interviews abgelehnt.
Am 13. Dezember 2006, dem letzten Arbeitstag des parlamentarischen Untersuchungsausschusses in Estland, der vom estnischen Parlament eingesetzt war, um die Hintergründe und Fakten zu recherchieren, die es im Fall des illegalen Transports militärischer Güter auf der Estonia gab, räumte der ehemalige estnische Außenminister Trivimi Velliste überraschend ein, eine der Personen gewesen zu sein, die diese Transporte genehmigt und betreut hatten. Velliste, der ab 1994 Mitglied des estnischen Parlaments war und die ganze Zeit im Untersuchungsausschuss mitgewirkt hatte, nannte gleichzeitig den damaligen estnischen Premierminister Mart Laar als einen weiteren der prominenten Hintermänner der illegalen Militärtransporte auf der Estonia. Die Vorsitzende des parlamentarischen Untersuchungsausschusses, Evelyn Sepp, bezeichnete diese Fakten als skandalös und forderte rechtliche Konsequenzen.
Simulation2007 wurde noch einmal das Unglück in Form einer Computersimulation untersucht. Dabei nutzten Hamburger Forscher das Simulationsprogramm Rolls für Schiffsunglücke. Mit dem Programm konnte gezeigt werden, dass die bei schwerem Seegang und hoher Geschwindigkeit auftretenden Kräfte bei Weitem die Werte überstiegen, für die das Bugscharnier ausgelegt war. Eine Sprengung des Scharniers, über deren Möglichkeit ebenfalls spekuliert wird, war dazu nicht notwendig. Vermutlich riss die Bugklappe bereits gegen 1 Uhr vollständig ab, und die Tragödie dauerte 14 Minuten länger als zunächst angenommen. Auch die Rampe hinter der Bugklappe, die als Schutzwand fungierte, muss vollständig verloren gegangen sein, weil sonst der starke Wassereinbruch auf das Ladedeck nicht verständlich wäre. Die Navigatoren, die von der Kommandobrücke aus keinen Blick auf das Bugvisier hatten, sich aber vermutlich des Ausmaßes des Unglücks bewusst waren, drehten in einem Manöver das Schiff mit der Schlagseite in den Wind, damit es sich durch die Naturkräfte (Wind und Wellenrichtung) wieder aufrichte. Jedoch bewegten sich dabei die eingedrungenen Wassermassen in die entgegengesetzte Richtung, so dass die Fliehkräfte die Schlagseite nach Steuerbord noch verstärkten (01:20 Uhr: 50°). Das Schiff legte sich um 01:32 Uhr endgültig auf die Seite, und die hinteren großen Fenster barsten, so dass noch mehr Wasser ins Innere dringen konnte. Das Schiff kenterte. Zudem ergab die Simulation, dass bei einer derartigen Schräglage die meisten Passagiere keine Chance hatten, über die Fluchtwege aus dem Inneren des Schiffes an Deck zu gelangen. Die Simulation zeigte auch, dass die Bestimmungen der IMO für kombinierte Passagier-Auto-Fähren nicht ausreichend sind.
AttentatstheorienNach dem Untergang der Estonia gab es Schifffahrtsexperten und Journalisten, die die offizielle Unglücksursache der Estonia-Tragödie zu widerlegen suchten. So wurde beispielsweise behauptet, dass es nicht möglich gewesen sei, dass in der von der offiziellen Untersuchungskommission JAIC angegebenen Zeitspanne zwischen dem Abreißen des Bugvisiers und der vollständigen Havarie des Schiffes eine derart große Wassermenge über das Autodeck eindrang, um die Fähre zum Sinken zu bringen. Zudem wurde behauptet, dass der JAIC mehrere Zeugenaussagen außer Acht gelassen habe, die besagt hätten, dass das Wasser zunächst in das unter dem Fahrzeugdeck gelegene Deck 0 eindrang und somit nicht das abgerissene Bugvisier die Unglücksursache gewesen sein könne. Außerdem sei es am 27. September 1994 gegen 18 Uhr möglicherweise zu einer Bombensuche an Bord der Estonia gekommen. Dies sei von einem estnischen Kadetten in einem im Januar 2000 ausgestrahlten Interview mit dem deutschen Nachrichtenmagazin Spiegel TV behauptet worden. Er hatte auf dem Schulschiff Linda gegen 19:30 Uhr über Funk erfahren, dass die Offiziere auf der Kommandobrücke der Estonia von der Hafenkontrolle gefragt wurden, was die Suche mit den Hunden nach der Bombe erbracht habe. Ein Offizier der Estonia antwortete daraufhin, die Suche sei ohne Ergebnis beendet worden. Andere Theorien ziehen darüber hinaus auch eine Verwicklung des russischen Militärs oder ehemaligen Geheimdienstes KGB, der schwedischen, finnischen, estnischen und US-amerikanischen Regierungen sowie des US-amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA in die Katastrophe in Betracht.
Im Dezember 1999 kam eine von der Meyer Werft berufene Expertengruppe zu dem Ergebnis, dass die Bugklappe der Estonia nicht, wie offiziell festgestellt, durch Seegang gelöst, sondern durch mindestens zwei Detonationen unterhalb der Wasserlinie abgesprengt wurde. Nach Angaben des Hamburger Kommissionsmitglieds Kapitän Werner Hummel seien auf Videos, die Taucher vom Wrack anfertigten, deutlich zwei Sprengstoffpakete zu sehen, die nicht detoniert waren. Metallstücke, die von einem privaten Tauchunternehmen gefördert wurden, wurden von zwei unabhängigen Instituten untersucht, die Metallstrukturveränderungen fanden, die sich laut deren Ergebnissen nur auf eine Explosion zurückführen ließen. Eine weitere Untersuchung der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung kam zum Ergebnis, dass die Deformationsspuren nicht Folge einer Explosion, sondern einer normalen Rostschutzbehandlung waren.
ProzessIm Juli 2019, fast 25 Jahre nach dem Untergang der Estonia, wies ein französisches Gericht in Nanterre Zivilklagen gegen die deutsche Meyer Werft und die französische Prüfgesellschaft Bureau Veritas ab. Die Prüfer hatten die Fähre als seetüchtig eingestuft. Über 1000 Kläger – darunter Überlebende und Angehörige der Opfer – hatten über 40 Millionen Euro Schadensersatz verlangt.
Gedenkstätten
Die Estonia wurde nicht gehoben, damit die Ruhe der Toten im Wrack nicht gestört wird. In Estland und in Stockholm gibt es mehrere Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer des Untergangs. Die Gedenkstätten sind kommunale Gedenkstätten, die nicht nur den Angehörigen, sondern allen Besuchern offenstehen und darüber hinaus in regionale Tourismuskonzepte mit einbezogen werden. Das wurde in Schweden bei der Estonia-Gedenkstätte „Estoniaminnesvården“ in Stockholm-Djurgården deutlich, wo die Angehörigen kein Mitspracherecht bei der Planung und keine Einladung zu der Einweihungsfeier erhielten.
Estonia-Gedenkstätten in EstlandAm nördlichen Rande der Altstadt von Tallinn steht in der Nähe des Wehrturm „Dicke Margarete“ die am 28. September 1996 von dem Bildhauer Villu Jaanisoo aus schwarzem Granit fertiggestellte Skulptur „Katkenud liin“ (dt. Unterbrochene Linie). Eine „Wasserstraße“ führt in einem weiten Bogen von einer Anhöhe zu einem Abgrund, bricht darüber ab. Weit jenseits der Bruchstelle setzt sich der Bogen fort, und die „Wasserstraße“ stürzt in das Erdreich hinein. Unter diesem herabstürzenden Bogen befindet sich ein mit schwarzem Granit eingefasstes langes Blumenbeet mit der Inschrift „Estonia 28. September 1994“. Die Wiese auf der Anhöhe, auf der die Skulptur beginnt, ist von schwarzem Granit umgeben, der die gleiche Inschrift trägt. Unter der oberen Abbruchstelle ruht eine schwarze Granitplatte, auf der die Namen der Ertrunkenen verzeichnet sind. Die Angehörigen legen hier und auf dem darüber stehenden Bogen Blumen, Kränze und Windlichter nieder. Der Name dieser Skulptur ist der Mathematik entnommen.
Zur Einweihung der Gedenkstätte in Tallinn gestalteten die Künstler Riho Luuse und Jaan Saar einen Briefumschlag mit einem Sonderstempel, auf dem die Estonia abgebildet ist und der die Inschrift trägt: „28. September 1996 Tallinn EESTI POST“.
Weitere Estonia-Gedenkstätten befinden sich an den folgenden Orten:
- Die Gedenkstätte der Insel Abruka (dt. Abro) steht auf dem Inselfriedhof. Sie ist den fünf Inselbewohnern gewidmet, die bei dem Unglück der Estonia umgekommen sind.
- Die Gedenkstätte auf der Insel Hiiumaa (dt. Dagö) steht am Strand der Halbinsel Tahkuna in der Nähe des Leuchtturms an jener Stelle von Estland, die der Unglücksstelle der Estonia am nächsten liegt. Von hier aus hat man einen weiten Blick über das Meer. Die Gedenkstätte wurde im Jahr 1995 von Mati Karmin errichtet, hat eine Höhe von neuneinhalb Metern und ist denjenigen Kindern gewidmet, die auf der Estonia umgekommen sind. Aus einem Steinhaufen ragt eine schräggestellte filigrane Skulptur empor, die aus vier schmalen rostenden Stahlträgern gebildet wird, die oben von einem Quadrat aus vier schmalen Stahlträgern abgeschlossen wird. In diesem offenen Quadrat hängt ein langes versilbertes Stahlkreuz, das schwingend befestigt ist und am unteren Ende eine Bronzeglocke trägt. Trauernde, die zu der Gedenkstätte kommen, können einen Stein auf dem Steinhaufen niederlegen und die Glocke anschlagen, um den Verstorbenen emotional näher zu kommen. Bei Sturm fängt die Glocke an zu läuten; das weckt bei den Trauernden die Empfindung, dass die Seelen der Verstorbenen diese Glocke zum Läuten bringen. Deshalb wird die Bronzeglocke auch als „Seelenglocke“ bezeichnet.
- Die Gedenkstätte in der Stadt Pärnu (dt. Pernau) mit einer zwölf Meter hohen Skulptur wurde im Jahr 1997 ebenfalls von Mati Karmin und Tiit Trummal errichtet. Ein langes mit Granit eingefasstes Kiesbeet führt zu einer erhöhten quadratischen Plattform; darauf steht ein schwarzer Gedenkstein, über den sich ein filigraner schwarzer „Baldachin“ erhebt, der aus zwei ineinander verschränkten „Toren“ aus Stahl gebildet wird. In dem Baldachin schwebt ein schrägliegendes versilbertes Stahlkreuz.
- Die Gedenkstätte in der Stadt Võru (dt. Werro) steht in der Grünanlage „Seminari väljak“ neben der Kirche „Katariina kirik“. Die Skulptur zeigt einen stark geneigten schwarzen Granitblock, der im Boden „untergeht“. Aus dem Granitblock ragen zwei zusammengelegte „betende Hände“ (nach einem Motiv von Albrecht Dürer) heraus. Neben der Skulptur steht ein schlankes weißes Kreuz. Die Gedenkstätte wurde im Jahr 1996 von dem Bildhauer Mati Karmin fertiggestellt und nennt die Namen der 70 Bürger der Stadt Võru, die bei dem Untergang der Estonia umgekommen sind.
- Die Gedenkstätte auf der größten estnischen Insel Saaremaa (dt. Ösel) ist an der Nordküste errichtet, an der Stelle der Insel die der Route der Estonia am nächsten war. Sie ist den umgekommenen Inselbewohnern gewidmet.
Die Gedenkstätten tragen den Namen „Estonia hukkunute mälestusmärk“.
Estonia-Gedenkstätten in Schweden Estonia-Gedenkkreuz beim Ersta-KrankenhausHans Håkansson, der bei dem Estonia-Unglück seine Frau verlor, errichtete beim Ersta-Krankenhaus in Södermalm, einem Stadtteil von Stockholm, ein schlichtes Holzkreuz zum Gedenken an die Opfer des Unglücks. Dieses Holzkreuz wird von vielen Angehörigen der Ertrunkenen als authentische Estonia-Gedenkstätte angesehen, weil es von einem der Hinterbliebenen errichtet wurde. Sie besuchen dieses Holzkreuz an den Jahrestagen des Unglücks.
Estonia-Gedenkstätte in Stockholm-DjurgårdenDie Estonia-Gedenkstätte Estoniaminnesvården befindet sich in Stockholm in Djurgården hinter der Brücke Djurgårdsbron an der Rückseite des Vasamuseums (Vasamuseet) und steht neben dem Friedhof Galärkyrkogården, der den Seeleuten gewidmet ist. Sie wurde von dem polnischen Künstler Mirosław Bałka (* 1958 in Warschau) entworfen, danach in Zusammenarbeit mit Landschaftsarchitekten realisiert und am 28. September 1997 eingeweiht. Der Weg, der am Vasamuseum entlangführt, dient als Zugang.
Das „Nationaldenkmal“ stellt den Bug eines Schiffes dar, das sich zur Meeresbucht Saltsjö hin öffnet.
Inmitten einer dreieckigen Kiesfläche mit jeweils 11 m Seitenlänge steht eine alte Ulme, deren Stamm dicht am Boden von einem Metallring umschlossen ist, auf dem die exakte Position des Wracks der Estonia eingraviert ist. Die Kiesfläche ist umschlossen von drei 2,50 m hohen Granitwänden, die den Blick auf die Meeresbucht Saltsjö freigeben. Die grauen Granitwände nennen auf der Innenseite die Namen fast aller Ertrunkenen in alphabetischer Reihenfolge. Zwischen den eingetragenen Namen bleiben einige Stellen leer, weil die Hinterbliebenen die Namenseintragung nicht erlaubten. Zuweilen liegen auf dem Boden Blumensträuße, die von Trauernden niedergelegt wurden.
Links neben der Estonia-Gedenkstätte befindet sich an der Treppe zum Friedhof Galärkyrkogården eine Gedenktafel in schwedischer Sprache.
Wegen der Estonia-Gedenkstätte Estoniaminnesvården gab es Kontroversen zwischen den Angehörigen und dem Staatlichen Kunstrat. Die Angehörigen beanstandeten, dass der Kunstrat sie nicht an den Entscheidungen beteiligte, den Entwurf eines Hinterbliebenen ablehnte und die Hinterbliebenen nicht zur Einweihungsfeier einlud. In diesen Kontroversen wurde deutlich, dass das Nationaldenkmal nicht für die Angehörigen, sondern für das schwedische Volk und für künftige Generationen errichtet worden war.
Mirosław Bałka hatte zunächst einen anderen Entwurf für die Gedenkstätte vorgelegt, bei dem die Namen der Ertrunkenen auf einem 0,92 m breiten und knapp 80 m langen weißen Zementweg eingetragen werden sollten, der in Djurgården von einem Anlegesteg der Meeresbucht Saltsjö zu einem Hügel hinaufführen und das ganze Jahr über die menschliche Körpertemperatur von 37 °C behalten sollte. Oben auf dem Hügel wollte Mirosław Bałka so wie auf einem Schiffsdeck zwei Stühle neben einen Schiffsschornstein stellen, aus dem man das Rauschen des Meeres hören könnte, da der 1,80 m hohe Schornstein durch eine unterirdische Röhre mit dem Meer verbunden werden sollte.
Dieser Entwurf wurde von den Angehörigen abgelehnt; sie hätten es als Zeichen der Verachtung empfunden, wenn die Besucher der Gedenkstätte die auf dem schmalen Weg eingravierten Namen der Ertrunkenen „mit Füßen treten“ würden.
Briefmarke der Estnischen Post
Nach dem Estonia-Unglück gab die Estnische Post am 18. November 1994 die Überdruckmarke Michel Nr. 242 in einer Auflage von 102.050 Stück für den Hilfsfonds zugunsten der Hinterbliebenen des Unglücks heraus. Der Überdruck befindet sich auf der am 15. November 1994 ausgegebenen Briefmarke Michel Nr. 241 mit dem Bild der im Süden von Estland gelegenen Kirche von Urvaste (dt. Urbs) im Wert von 2,50 kr, die von Henno Arrak gestaltet wurde und die Inschrift trägt: „Urvaste Kirik. XIV Sajand EESTI 1994“. Der Überdruck nennt einen Zuschlag von 20 kr und den Überdrucktext: „Estonia laevahuku ohvrite fondi“.
Rezeption
Spielfilme und DokumentationenDer Untergang der Estonia war Gegenstand in mehreren filmischen Werken:
- Der Spielfilm Baltic Storm (2003) beruht auf dem Buch Die Estonia: Tragödie eines Schiffsuntergangs der deutschen Journalistin Jutta Rabe.
- Spiegel TV Löcher im Stahl? Der Untergang der Estonia (2001)
- Im History Channel der BBC wurde die Dokumentation Sinking of the Estonia ausgestrahlt.
- Der Untergang der Estonia wurde in der dritten Folge der zweiten Staffel der britischen TV-Serie Zero Hour thematisiert.
- Das Unglück diente ferner als Vorbild für den Fernsehfilm Fähre in den Tod (1996, Sat.1), in der allerdings der Fokus mehr auf die nachfolgenden Untersuchungen und Verantwortlichkeiten gerichtet wurde.
- Im dritten Film der Serie Nord bei Nordwest – Estonia (2016, ARD) bildet die Version von einer Sprengung der Bugklappe den Hintergrund.
- Der estnische Komponist Veljo Tormis verarbeitete seine Eindrücke des Estonia-Unglücks in seinem Stück „Incantatio maris aestuosi“ für achtstimmigen Männerchor, welches lateinische Übersetzungen aus Auszügen der Kalevala vertont. Die Texte nehmen dabei konkret Bezug auf die aufkommenden und wirbelnden Meeresstürme sowie auf die Bitten der Seemänner an die Götter, sie zu schützen und die Winde vergehen zu lassen.
- Der finnische Komponist Jaakko Mäntyjärvi widmete den Toten der Fährkatastrophe das 1997 geschriebene Chorwerk „Canticum Calamitatis Maritimae“.
- Die britische Band Marillion komponierte einen Song mit dem Titel „Estonia“, der zum Gedenken an das Unglück auf dem 1997 erschienenen Album „This Strange Engine“ veröffentlicht wurde.
- Die deutsche Punkband Dackelblut verarbeitete die Ereignisse auf ihrem 1995 erschienenen Album „Schützen und Fördern“ zu einem Lied mit dem Titel „Der Koch von der Estonia“.
- Das Hörspiel „Der Untergang der MS Estonia“ von Jan Gaspard erschien 2008 als Folge 28 der Serie Offenbarung 23 und präsentiert eine Verschwörungstheorie, wonach die Estonia absichtlich versenkt wurde, um einen großangelegten Plutoniumschmuggel zu vereiteln. Dieser Ansatz wird auch in Folge 42 „Die Illuminaten“ (2012) thematisiert.
- Der schwedische Sänger Nils Patrik Johansson behandelte das Estonia-Unglück auf seinem ersten Soloalbum „Evil Deluxe“ (2018) im Lied „Estonia“. In diesem verwendete er auch Ausschnitte einer Funkaufzeichnung aus der Nacht des Unglücks.
- Die deutsche Autorin Anne von Canal (* 1973) verarbeitet das Unglück der Estonia in ihrem 2014 erschienenen Roman Der Grund.
- Im 2014 veröffentlichten Krimi Aus eisiger Tiefe des Autoren-Duos Roman Voosen und Kerstin Signe Danielsson bildet der Untergang der Estonia den gemeinsamen Nenner für mehrere Morde im småländischen Växjö (Schweden).
Sonstiges
Am 20. Februar 1994 geriet die Estonia in die Schlagzeilen, nachdem an Bord 64 kurdische Flüchtlinge aus dem Irak kurz vor dem Ersticken aus einem Container gerettet wurden. Die Gruppe – darunter 26 Kinder – war neun Stunden lang ohne Lüftung in dem Behälter eingesperrt gewesen. Ein Matrose entdeckte die Flüchtlinge drei Stunden nach dem Ablegen in Tallinn, als sie verzweifelt gegen die Containerwände trommelten. In dem Behälter wurde eine Hitze von 70 °C gemessen.
Literatur
- The Joint Accident Investigation Commission of Estonia, Finland and Sweden: final report on the capsizing on 28 September 1994 in the Baltic Sea of the Ro-Ro Passenger Vessel MV Estonia. Edita, Helsinki 1997, ISBN 951-53-1611-1.
- H. Soomer, H. Ranta, A. Penttilä: Identification of victims from the M/S Estonia. In: International Journal of Legal Medicine. Vol. 114, 2001, S. 259–262.
- Terttu Pihlajamaa: Estonia. Berichte und Erfahrungen. Evangelische Verlags-Anstalt, Leipzig 1999, ISBN 3-374-01754-1, (Das Buch enthält auch ein Kapitel über die Estonia-Gedenkstätte in Stockholm)
- Cay Rademacher: Geheimsache Estonia. Nymphenburger, München 1999, ISBN 3-485-00822-2.
- Jutta Rabe: Die Estonia. Tragödie eines Schiffsuntergangs. Delius Klasing, Bielefeld 2003, ISBN 3-7688-1460-2. (Das Buch zum Film „Baltic Storm“.)
- Jutta Rabe: „Estonia.“ Der Richter muss schweigen. In: Süddeutsche Zeitung. München 12. Febr. 2005, ISSN 0174-4917
- André Anwar: Wurde „Estonia“ gesprengt? In: Rheinische Post. Düsseldorf 4. April 2006.
- Explosion statt Unfall? In: Focus Online. 11. April 2006, ISSN 0943-7576.
- Streit um neue Untersuchung des Estonia-Unglücks. In: n.24. 12. April 2006.
- Warum sie sank, wie sie sank. In: Süddeutsche Zeitung. 22. September 2006, ISSN 0174-4917.
- Rätsel um gesunkene „Estonia“ bald geklärt? In: Die Welt. 4. Oktober 2006, ISSN 0173-8437.